Handreichung

„Religionen, Diplomatie und Frieden – eine Handreichung für die deutschen Auslandsvertretungen“

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Orientierungs- und Handlungsempfehlungen für eine religionssensitive Diplomatie

In den internationalen Beziehungen lässt sich seit den letzten Jahrzehnten ein verstärkter Fokus auf Religionen erkennen. Auch außenpolitisches Handeln bleibt davon nicht unberührt. Um das Friedenspotenzial von Religionen für die Außenpolitik fruchtbar zu machen und zugleich eine Resilienz gegenüber religiöser Gewalt und religiöser Instrumentalisierung zu erreichen, bedarf es einer religionssensitiven Außenpolitik. Diese zeichnet sich durch ein vertieftes Wissen außenpolitischer Akteurinnen und Akteure über religiöse Strukturen, insbesondere über die jeweils agierenden religiösen Gemeinschaften vor Ort, aus. Die folgenden Empfehlungen können hier eine erste Orientierung und Handlungsanleitung geben.

Religion und Recht

    1. Zugehörigkeiten der Gesprächspartnerinnen und -partner zu Rechtstraditionen kennen und einordnen. Rechtsnormen sind nicht absolut, sondern interpretierbar. Deshalb müssen sich (außen)politische Akteurinnen und Akteure bewusst machen, wer im jeweiligen landesspezifischen Kontext (religiöse) Rechtsnormen definiert und interpretiert.

    2. Religiöse Rechtsnormen ernst nehmen. Rechtsnormen religiöser Akteurinnen und Akteure sind nicht allein von einem säkularen demokratischen Standpunkt aus zu bewerten, sondern erst einmal als gleichberechtigte Normen anzusehen.

    3. Kenntnisse ortsspezifischer (Scharia)Traditionen aufbauen. Die Scharia ist kein endgültig kanonisiertes, kodifiziertes Recht, das überall, wo Musliminnen und Muslime leben, anzuwenden ist. Jede Forderung nach schariagerechten Lösungen sowie die dazugehörigen Reaktionen sind Produkte interpretativer Bestrebungen, die religiösen Quellen zu deuten, welche unter spezifischen politischen sowie historischen Umständen entstanden sind.

    4. Auf ethische Fundamentalwerte konzentrieren. Ethische Fundamentalwerte wie die Menschenwürde und die Achtung des Lebens eröffnen Möglichkeiten einer Verständigung zwischen säkularen und religiösen Akteurinnen und Akteuren.

    5. Kulturelle und religiöse Prägungen in der Menschenrechtspolitik ernst nehmen. Ein Beharren auf den Universalitätspostulaten menschenrechtlicher Konstruktionen, die aus der europäischen Denktradition erwachsen, könnte leicht in die Falle (post)kolonialer Arroganz führen. Allseits anschlussfähige Bedeutungszuschreibungen im Blick auf konkrete menschenrechtliche Regeln und Standards bedürfen interkultureller Aushandlungsprozesse.

    6. Selbstbescheidung europäischer Vertreterinnen und Vertreter. Auch menschenrechtliche Bindungen jenseits vertraglicher Kodifikationen erfordern eine gewisse Selbstbescheidung europäischer Vertreterinnen und Vertreter. Die glaubwürdige Konstruktion allgemeiner Rechtsgrundsätze verlangt eine breite Anschlussfähigkeit auch im Lichte außereuropäischer Denktraditionen und religiöser Überlieferungen. Europäische Menschenrechtsdiplomatie sollte sich hier mit ihren normativen Postulaten zurücknehmen.

    7. Spannungsfelder in allen Religionen wahrnehmen. Auch wenn in Menschenrechtsdiskursen die Auseinandersetzung mit islamischen Interpretationen dominieren mag, zeigen sich auch in jüdischen und christlichen Kontexten diverse Spannungsfelder zwischen Menschenrechtsforderungen und religiösen Geboten bzw. Traditionen, bspw. das Recht auf körperliche Unversehrtheit versus religiöse Beschneidung in der jüdischen Tradition oder auch die Rolle der Frau innerhalb der katholischen Kirche.

    8. Offene Debattenkultur fördern. Die Ausübung der Religions- und Meinungsfreiheit setzt eine offene Debattenkultur voraus. Diese gilt es, auch international zu fördern und entsprechende Rahmenbedingungen hierfür zu schaffen.

    9. Dialogformate etablieren. Diplomatinnen und Diplomaten können mit der Etablierung und Förderung von Foren für den Dialog zwischen Vertreterinnen und Vertretern von Religionsgemeinschaften, Medien sowie Menschenrechtsorganisationen vor Ort dazu beitragen, Vorurteile und Stereotype abzubauen bzw. zu vermeiden.

    10. Blasphemie-Debatte nicht unterschiedslos führen. In der Beurteilung von Blasphemiegesetzen muss sowohl die jeweilige Verfasstheit der politischen Systeme als auch die Menschenrechtskonformität der rechtlichen Bestimmungen berücksichtigt werden.

Religion und Gewalt

    1. Religiöse Gewalt ernst nehmen. Das Argument, dass Gewalt dem wahren Wesen der Religion widerspricht, greift zu kurz.

    2. Kontextsensible Interpretationslinien fördern. Deradikalisierungs- und Präventionsarbeit muss die historisch-kritische Auslegung gewaltlegitimierender Verse in Heiligen Schriften zum Ziel haben, um die Legitimation tödlicher religiöser Gewalt zu verhindern. Es gilt, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass letztlich jede Auslegung selektiv ist.

    3. Gewaltdiskurse verschiedener Gruppen berücksichtigen. In der Konfliktbearbeitung müssen Gewaltdiskurse zwischen und innerhalb verschiedener religiöser Gruppen ernst genommen werden.

    4. Interessen der religiösen Gesprächspartnerinnen und -partner wahrnehmen. Religionsgemeinschaften zeichnen sich durch hohe Diversität von Interessen aus. Wichtig ist es, Diskurse um religiöse Legitimierung von Gewalt zu kennen, ohne selbst Teil der religiösen Diskurse zu werden oder inhaltliche Positionen einzunehmen.

    5. Im Kampf gegen fundamentalistische Bewegungen nicht instrumentalisieren lassen. Außenpolitische Akteurinnen und Akteure sollten eigene Werte und Zielsetzungen des außenpolitischen Handelns im Blick behalten. So ist bspw. die Trennung von Religion und Politik nicht immer im Interesse europäischer Regierungen. Denn ein scheinbar apolitischer Islam kann vor-rangig auch dazu dienen, die Sicherheit autoritärer Regime zu gewährleisten.

    6. Freiräume für religiöse Diskurse schaffen. Um Fundamentalismus und Extremismus zu verhindern, braucht es neben der Bekämpfung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ursachen auch differenzierte religiöse Diskurse. Das schließt diplomatische Anstrengungen mit ein, diese auch in autoritären Staaten zu ermöglichen.

    7. Instrumentalisierungsdiskurse differenziert betrachten. Außenpolitische Akteurinnen und Akteure sollten beachten, dass hinter der Rede von der Instrumentalisierung von Religion – insbesondere im Kontext gewaltsamer Proteste oder Konflikte – auch religiöse Gewalt stehen kann.

    8. Zurückhaltung in Instrumentalisierungsdiskursen. Außenpolitische Akteurinnen und Akteure sollten es vermeiden, über die Instrumentalisierung von Religion zu urteilen, um nicht unfreiwillig selbst für apologetische Diskurse instrumentalisiert zu werden oder in eine Verdachtssemantik abzugleiten.

    9. Instrumentalisierbarkeit von Religion vorbeugen. Außenpolitik kann präventiv handeln, indem sie religiösen Analphabetismus bekämpft und religiöse Bildung unterstützt. Zudem sollte sie auf die Verminderung der politischen und sozialen Benachteiligung von Glaubensgemeinschaften hinwirken.

    10. Kontextabhängigkeit religiöser (De-)Legitimierung von Gewalt beachten. Die Haltung einer Religionsgemeinschaft gegenüber militärischer Gewalt ist nicht durch die Grundstruktur der Religion, sondern vielmehr durch historische Bedingungen und aktuelle politische Konstellationen bestimmt. Daraus ergibt sich eine große Diversität der verschiedenen religiösen Po-sitionierungen zu militärischem Handeln.

    11. Bezogenheit von Religionsgemeinschaften zu ihren jeweiligen Staatssystemen ernst nehmen. Religiöse Diskurse um die (De-)Legitimierung staatlicher militärischer Gewalt sind auch durch den politisch-institutionellen Rahmen der jeweiligen Staaten bestimmt. Außenpolitisches Handeln muss die Verbindungen zwischen staatlichen und religiösen Strukturen vor Ort kennen, um dem Ziel einer religionssensitiven Außenpolitik gerecht zu werden.

    12. Gesprächsabbrüche vermeiden. Inter- und intrareligiöse Gesprächsforen sind – auch mittels diplomatischer Initiativen – zu stärken, selbst wenn einzelne religiöse Akteurinnen und Akteure nicht rechtmäßige militärische Gewalt wie Angriffskriege legitimieren. Auf diese Weise soll der Gefahr der Isolation bestimmter Argumentationslinien und einer Verhärtung extremer Positionen entgegengewirkt werden. 

Religion und Frieden

    1. Unterschiedliche Begriffsverständnisse von Frieden und Gerechtigkeit beachten. (Außen)politische und religiöse Akteurinnen und Akteure müssen um ihre jeweils verschiedenen Zugänge wissen, wenn sie im Rahmen von Diplomatie, Dialog und Kooperation zusammenkommen und gemeinsam in Konflikten und Friedensprozessen verhandeln.

    2. Mehrdeutigkeit der Schriftinterpretationen berücksichtigen. Verse der Heiligen Schriften bringen eine Vielzahl an Interpretationen hervor. Diese bedürfen einer historischen Verortung und Kontextualisierung.

    3. Religiöse Friedensbotschaften in Diplomatie, Dialog und Kooperation aktiv evozieren. Heilige Schriften können eine Orientierungskraft im Politisch-Ethischen entfalten, denn Gläubige sind bereits im Diesseits aufgefordert, nach Frieden und Gerechtigkeit zu streben.

    4. Frieden stets im Kontext von Verantwortung denken. Die Friedensverantwortung von Religionen ist als eine Verpflichtung gefasst, die in aktives Handeln umzusetzen ist. Hieran können außenpolitische Akteurinnen und Akteure anknüpfen.

    5. Religiöse Akteurinnen und Akteure zur Verantwortungsübernahme auffordern. Außenpolitik sollte gezielt auf das religiöse Friedenspotenzial hinweisen und die Akteurinnen und Akteure bei der Übernahme von Friedensverantwortung unterstützen.

    6. Friedenspotenzial von Religionen in Krisenprävention und Konfliktbearbeitung einbeziehen. Religiöse Friedenspotenziale lassen sich aufgrund der Fachkompetenz, der Glaubwürdigkeit, der Verbundenheit und des Vertrauensbonus religiöser Akteurinnen und Akteure nutzen. Es gilt, geeignete religiöse Friedenspartnerinnen und -partner zu identifizieren und zu unterstützen.

    7. Religiösen Friedenspartnerinnen und -partnern Konfliktbearbeitungskompetenzen zur Verfügung stellen. Außenpolitik kann neben finanzieller und politischer Hilfe etwa zur Etablierung regionaler oder lokaler Austauschformate auch Fortbildungen oder Unterstützung wie Transportmittel, Sicherheitsgarantien oder Kommunikationstechnik anbieten.

    8. Im Gespräch bleiben und zuhören. Es gilt, den Kontakt mit Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Religionsgemeinschaften zu pflegen, gerade auch wenn diese sich in Friedensprozessen zurückhalten oder verweigern, um mögliche Motive ihres Handelns zu erfahren.

    9. Religionen als Gatekeeper der sozialen Ordnung würdigen. Religiöse Akteurinnen und Akteure können aufgrund dieser Funktion Verbündete für übergreifende Ziele wie Armutsbekämpfung, Bewältigung ökologischer Krisen sowie Zugang zu Bildung und Erziehung darstellen.

    10. Rahmenbedingungen religiöser Akteurinnen und Akteure in der zivilen Konfliktbearbeitung fördern. Anlässe und Strukturen des Austausches zwischen religiösen und politischen Akteurinnen und Akteuren für Frieden und Versöhnung sind aufrechtzuerhalten und zu intensivieren. Dazu gehört es auch, einen verlässlichen und fördernden Rahmen für den interreligiösen Dialog zu schaffen.